Michael Kvium / raawii

„Ich möchte, ohne es wirklich zu wollen, in den Abgrund schauen, im Dunklen sehen“
– Michael Kvium

 

Schönheit ist trügerisch, sie führt den Betrachter in die Irre, um das Trauma der Zivilisation vor dem Zuschauer zu verbergen, und sie versucht, das Publikum der ideologischen und normierenden Verblendungen der Gesellschaft mittels Ehre, moralischer Korrektheit oder der Autoritätslüge zu erbauen und ihm dabei gleichzeitig die Augen zu öffnen, glaubt der dänische Künstler Michael Kvium (Jahrgang 1955).  Künstler lassen sich nach Ansicht von Kvium im Wesentlichen in zwei Gruppen einteilen, und zwar „solche, die enthüllen und solche, die verbergen.“ „Ich möchte“, ergänzt er, „um jeden Preis die erste Gruppe repräsentieren.“ An einer anderen Stelle ergänzt er: „Hinter jedem guten Kunstwerk steht eine Revolution.“

In der klassischen Schönheit seiner oft grotesken und provozierenden figurativen Kompositionen verwendet Kvium eine performative barocke Ästhetik, um den Blick auf das zu richten, was die Gesellschaft häufig übersieht. Als er in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts an der Spitze der Postmoderne in der internationalen Kunstszene erschien, kämpfte er rebellenhaft für eine Rückkehr zu den Möglichkeiten der figurativen Darstellung in der Kunst nach den Tendenzen zur Entmaterialisierung des Minimalismus, des abstrakten Expressionismus und des Konzeptualismus in den vorausgegangenen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Das Werk des Künstlers, das Film, Performance, Installation, Bildhauerei und Malerei umfasst, ist von den besonderen nordeuropäischen Ausprägungen einer existentiellen Sehnsucht durchdrungen, es verwendet eine Bildsprache des Elenden, Hässlichen, Surrealen und Entstellten, um die Absurdität der Existenz zu enthüllen und die gleichermaßen erschreckende wie verborgene Kehrseite der Macht aufzuzeigen. 

Kviums Partnerschaft mit dem in Kopenhagen ansässigen Designunternehmen Raawii, das dafür bekannt ist, seine Inspiration aus der Kunstgeschichte zu beziehen, hat sich für beide Seiten als Offenbarung erwiesen. Der Unternehmensgründer Nicholas Wiig Hansen erklärt hierzu: „Wir haben Michael für unsere erste Partnerschaft mit einem lebenden Künstler kontaktiert, da wir der Ansicht waren, dass er jemand ist, der unsere Vision versteht.“ Kvium, der auf Einladung den Produktionsbetrieb des Unternehmens in Südeuropa besuchte, war nicht nur begeistert von der Möglichkeit, mit neuen Materialien arbeiten zu können, sondern auch beeindruckt von der Hingabe und der Heiterkeit, die er bei den Beschäftigten erlebte, ihre sympathische Art eröffnete dem Künstler die Möglichkeit, sich ganz auf die Arbeit einzulassen. Diese Partnerschaft, die erste in einer ganzen Reihe, die Raawii glaubt, mit zeitgenössischen Künstlern knüpfen zu können, hat, wie Nicholai anmerkt, nicht das Ziel, die moderne Kunstwelt nachzuahmen. Der Begründer von Raawii erliegt nicht der Versuchung, die Designobjekte als Kunstwerke zu behandeln, sondern bleibt bei seiner Überzeugung: „Es handelt sich hierbei um Produkte, nicht um Kunstwerke mit einer bestimmten Auflage.“ Die Herstellung jedes Designstücks erfolgt in Portugal in unbegrenzter Qualität [sic!], es soll sowohl Gebrauchsgegenstand sein als auch Bestandteil der Vision des Künstlers für eine breite Bevölkerungsschicht. Das Ergebnis der Partnerschaft von Kvium und Raawii sind bis heute drei Keramikobjekte unter der Gesamtbezeichnung Jam: eine Vase (23 x 18 cm), ein Kernstück (8 x 34 x 40 cm) und ein figurativer Kerzenhalter (31 x 25 x 35 cm).

Das fleischgewordene Absurde: Vase und Kernstück von Kvium

Unter dem Eindruck der Freiheit, die die Entdeckung eines neuen Mediums mit sich bringt, waren die ersten beiden der drei Designobjekte, die Kvium für Raawii erstellte, lediglich als Experimente gedacht. Das Ergebnis dieser Befreiung war nicht nur ein Werk, sondern sogar zwei: eine Vase (erhältlich in sieben Farben) und ein Kernstück (erhältlich in drei Farben), die beide ein wesentliches Element der unbewussten Bildsprache des Künstlers zeigen. Über die Ränder und die Hohlräume der Vase und Kernstück, die Kvium schon in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts erstmalig in seinen Skizzenbüchern entworfen hatte, breiten sich fleischige, bauchige und miteinander verbundene Stränge aus, die dem Betrachter einen grundlegenden Einblick in das Pantheon des Künstlers bieten. Die Darstellung bisweilen embryonisch, eingeweideartig anmutender oder erstarrter Überreste zeigt, dass in diesen schwermütigen, üppig amorphen Formen der Anflug eines heftigen ideologischen Kampfes liegt, der für den Künstler nichts Geringeres als die Zukunft des Lebens auf dieser Erde entscheidet. Diese amorphen Massen haben tatsächlich in Kviums Werk eine unmittelbare politische Konnotation erlangt. Als skulpturale, in sich verschlungene fremdartige, labyrinthische, immersive Installation im letzten Raum des spannungsgeladenen „Circus Europa“ des Künstlers im Arken Museum für Moderne Kunst von 2017-2018 präsentieren diese Homunkuli oder Eingeweide dem Betrachter die möglichen Konsequenzen des menschlichen Lebens in der Zeit nach der anhaltenden, vollständigen ökologischen Zerstörung.

 Der unwillige Lichtverteiler der Kraft: ein Kerzenhalter

Bei dem dritten und abschließenden Designobjekt, das Kvium für seine Partnerschaft mit Raawii schuf, entfallen die mehrdeutige Physiognomie, das amorphe Fleisch und die anthropomorphe Erniedrigung. An ihrer Stelle sitzt ein kleines, zierliches – offensichtlich aber niedergeschlagenes – kleines Kind auf einer Platte, und aus seinem gesenkten Kopf ragt ungestüm eine Kerze hervor. Diese unheimliche Erscheinung, die aus reinweißem Gips besteht, von dem sich lediglich ein einzelnes schwarzes T-Shirt-Etikett schief in seinem Nacken abhebt, widerlegt das Porträt, das der Künstler als kindliche „Puppe“ bezeichnet; wie bei zahlreichen jugendlichen Figuren von Kvium, die kraftlos wirken, ist diese „Puppe“ die Beute von Macht und Begierde anderer, insbesondere der Vorrechte und der Machtpolitik einer korrupten Erwachsenenwelt. Dieser Kerzenhalter, ein performatives absurdes Objekt, ist Bestandteil des alltäglichen Dramas, er spiegelt die dialektischen Tendenzen wider, die einen Großteil des Werks von Kvium kennzeichnen: Der Wechsel zwischen den Polen von Konfrontation und Reflexion. Die Komposition, die bei dem Betrachter eine Gefühlsreaktion auslösen soll, weckt sowohl Erinnerungen an die früheren plastischen Arbeiten des Künstlers, wie beispielsweise „The Culture Ride“ (2012), ein Bronzeobjekt, das ein Kind mit einer Farbpalette auf dem Rücken eines Esels mit geschlossenen Augen zeigt, für den Künstler „ein Porträt einer Kultur, die blindlings ihres Weges reitet“, als auch an frühere Gemälde wie das „Simple Portrait IV“ (2011), das eine nackte männliche Figur darstellt (auch mit dem Aussehen von Kvium), von deren Kopf eine brennende Kerze herabtropft und so auf humorvolle Weise die absurde Nähe von Erleuchtung und Verrücktheit aufzeigt.